Verlags- und Imprintgruppe R. G. Fischer
R. G. Fischer Verlag
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Anja Krystyn


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Beitrag entnommen aus
Anthologie »Zeilenwende«
Ausgabe 2025







Weinende Roboter


Eigentlich könnten wir als Spezies Mensch hochzufrieden sein. Das letzte Glanzstück der Technologie hat binnen kurzer Zeit unser Leben revolutioniert, und das auf friedliche Weise. Künstliche Intelligenz nennt sich das Wundermittel, das uns viele anstrengende, langweilige und gesundheitsschädliche Arbeiten abnimmt. Millionen von Daten werden gesammelt und in einer Geschwindigkeit vernetzt, die das menschliche Gehirn auch mit größter Anstrengung nicht bewältigen kann. Endlich kann der überforderte Mensch aufatmen und die gewonnene Lebenszeit genießen. Womit? Auch das erklären uns die unerschöpflichen Quellen der KI.
Die Technologie ist bei den einfachen Menschen noch gar nicht richtig angekommen, da läuft in den Rechenzentren längst die Suche nach Höherem. Dem menschlichen Gehirn sollen noch mehr seiner Geheimnisse entrissen werden, vor allem sein größten Schatz − die Gefühle. Was früher als Soft Object belächelt wurde, gilt längst als mächtige Waffe der Manipulation, mit der sich viel Geld verdienen lässt. Einziger Nachteil: Gefühle lassen sich nicht wie die Sprachsoftware eines Chatbot programmieren. Freude, Angst, Lust und Trauer sind dem biologischen Gehirn vorbehalten. Als unberechenbare, unsichtbare, somit gefährliche Masse können sie den Menschen plötzlich überfallen, ohne sich mit einem Klick abstellen zu lassen. Selbst der ansonsten wache Intellekt kann im Rausch der Gefühle völlig unsinnige Entscheidungen treffen. Diese Unterlegenheit zu besiegen ist die neue Herausforderung der KI-Forscher. Nicht mehr Algorithmen sollen über gezielte Inhalte die Gefühle der User manipulieren. In Zukunft sollen softwaregesteuerte Kreaturen mit echten Gefühlen dem Menschen ebenbürtig werden.
Wen jetzt vor Angst der Schüttelfrost erbeben lässt, kann vorerst beruhigt aufatmen. Noch gilt das wissenschaftliche Faktum, dass nur ein biologisch funktionierendes Wesen Gefühle haben kann. Für jede Emotion braucht es die Fähigkeit, auf diese körperlich zu reagieren. Weinen, Schweißausbruch, Herzklopfen, sogar Ohnmacht aus Angst sind weiterhin den Kreaturen mit schlagenden Herzen vorbehalten. Die sogenannten phänomenalen Erfahrungen brauchen das phänomenale Bewusstsein, so nennen es die Philosophen. Dieses Bewusstsein ist bisher von künstlicher Intelligenz ausgeschlossen. Selbst fortschrittliche Chatbots kombinieren lediglich Texte, mit denen man sie füttert.
Laut IT-Forschung könnte sich das bald grundlegend ändern. Es kann nicht so schwer sein, jenen kleinen Gefühlsgenerator im Gehirn zu entlarven und seine biologische Herkunft zu kopieren. Die ersten Schritte sind bereits getan und werden stolz verkündet. Softwaregesteuerte Beweglichkeit lebendiger Zellen sei bereits möglich, mehr Details werden nicht verraten.
In meinem analog funktionierenden Gehirn schrillen die Alarmglocken, teils aus Unglauben solch abstruser Behauptungen, teils aus Angst vor ihnen. Wollen wir Menschen tatsächlich technisch steuerbare Wesen mit echten Emotionen kreieren? Wollen wir die Fähigkeit zu intensiven Gefühlen der Technik anvertrauen? Soll ein Affektroboter mich vor dem Zusammenbruch schützen, wenn mein Blutdruck vor Angst absackt oder über zweihundert ansteigt?
Mein biologisches Gehirn erkennt in solchen Entwicklungen keinen Fortschritt. Ich finde es beruhigend, dass die Gründe für Freude, Wut oder Lust mir allein gehören. Sie sind Eigentum jedes Menschen als sein/ihr privater Schutzwall, individuell gefärbt durch frühere Erfahrungen. Das gleiche Erlebnis löst bei einer Person Freudentränen, bei der anderen seelischen Horror aus, da frühere Gefühle getriggert werden. Außenstehende können diese Reaktion weder verstehen noch nachvollziehen, außer, sie bemühen sich um Empathie. Diese Qualität scheint uns Menschen zunehmend verloren zu gehen. Soll dieses Defizit durch einfühlsame Roboter ersetzt werden?
Das würde allerdings einen zynischen Kreislauf schließen, der bereits schleichend unser Leben beherrscht. Die hochgelobte KI soll Gefühle erzeugen, die uns durch sie verloren gehen.
Man muss sich nur in ein Café setzen, der früher lebendigsten Stätte menschlicher Kommunikation. Heute haben die gesprochenen Worte emsigen Wischern über Displays Platz gemacht. Die Vibration zwischen lebendigen Mündern und echten Augenpaaren ist fast zum Erliegen gekommen. Ein Pärchen sitzt schweigend nebeneinander, jeder in sein Smartphone vertieft. Die ersten Worte fallen erst, als der Kellner zwecks Bestellung herantritt. Zumindest dies verläuft noch analog, ist jedoch in besonders coolen Lokalen per Wischer auf dem Display möglich. Nach der Bestellung starren beide jungen Leute weiter auf ihre Displays, die Minen starr, die Lippen verkniffen. Kein freundliches Lächeln huscht zwischen ihre Gesichter. Als die vollen Teller serviert werden, essen sie schweigend, als hätte ihnen jemand das Reden während des Essens verboten. Nur einmal greift die junge Frau in ihre Handtasche, um einen Anruf auf ihrem Smartphone wegzuwischen. Immerhin wird während des Essens nicht telefoniert. Ebenso könnte jeder der beiden allein auf einer Insel sitzen, was sie innerlich auch tun. Als einzige Lebensquelle muss ein 5G Netz verfügbar sein.
Derlei Szenen, in vielen Lokalen und Altersklassen üblich, findet jeder normal. Verblüfft ist man nur, wenn an einem anderen Tisch zwei Sechzigjährige sitzen, an denen der digitale Rausch offenbar vorbeigegangen ist. Keiner hat ein Handy am Ohr, sie sprechen, lachen, diskutieren. Beide Gesichter strahlen einmal Freude, dann Sorge, einmal sogar Wut aus, als die Dame unabsichtlich Bier auf die Hose ihres Partners kippt. Ein Aufschrei, wildes Gestikulieren, entschuldigende Worte. Schließlich streicht der Mann ihr liebevoll über die Wange, beide Gesichter überfliegt ein vertrautes Lächeln. Die beiden wirken wie Aliens von einem anderen Planeten.
Dank KI bekommen wir alle Antworten nach dem Sinn des Lebens, zudem reichlich Angebote, sich vierundzwanzig Stunden des Tages zu vertreiben. Jede aufpoppende Info verspricht etwas Neues, noch Aufregenderes. Greif zu, bleib auf dem Laufenden, versäume ja nichts! Fear of missing out ist der uns treibende Gefühlsmotor. Alle tun das Gleiche, mit dem Effekt der völligen Vernebelung dessen, was real links und rechts geschieht. Wenn es besonders schockierend ist, muss es mit digitaler Kamera eingefangen und gepostet werden. Der schrecklichste Post gewinnt die meisten Likes. Mitgefühl, wozu? Geschieht ja alles nur irgendwo im Netz.
Wir alle beklagen diese Ignoranz, ohne deren schleichende Auswirkungen zu erkennen. Wenn ich mit meinem Gegenüber nicht spreche, nicht länger in seine Augen schaue, seinen Atem spüre, werde ich mit der Zeit unempfindlich gegen seine Gefühle, schließlich auch gegen meine eigenen. Der rücksichtsvolle Umgang miteinander, gar Respekt gegenüber Gefühlen des anderen lösen sich in weltweiter Anonymität auf. Sekundenschnelle Videos fragen nicht nach Mitgefühl, nur nach Aufmerksamkeit und Gier nach noch mehr rasenden News. Lediglich der Verlust des Smartphone oder Tablet erzeugt in uns Gefühle von Angst, Einsamkeit und Verzweiflung. Um wieder an das Gerät zu gelangen, mobilisiert das Gehirn all seine mentalen und emotionalen Kräfte. Digitale Abhängigkeit als Ersatz für Empathie − soll man das als Fortschritt der Evolution betrachten?
Der Umgang mit Gefühlen bedarf der Übung ebenso wie jener mit Künstlicher Intelligenz. Ein menschliches Gegenüber mit seiner Palette an Emotionen, Widersprüchen und Launen fehlt heute vielen Menschen, besonders Kindern und Jugendlichen. Über viele Stunden des Tages hocken sie allein vor ihrem Display, kommunizieren mit Plattformen im Internet, bestenfalls mit Kumpels online. Ihre Sprache reduziert sich auf ein Minimum, ohne Wortwahl, ohne Grammatik. Die Schwingung der lebendigen Stimme, den Geruch der hitzigen Diskussion spüren sie nicht. Abhängig von Likes anderer von Gefühlen abgeschnittener Wesen fristen ihre Seelen ein flaches Dasein. Immerhin haben sie die Möglichkeit, das Gegenüber im Netz abzudrehen, wenn es unbequem oder langweilig wird. Gegenseitige Toleranz oder Kompromisse üben? Fehlanzeige. Wenn man unzufrieden ist, dreht man den anderen einfach ab. Keine lebendige Konfrontation, keine Betroffenheit, keine Angst, somit auch keine Freude. Was bleibt, ist die ungestillte Sehnsucht nach Gefühlen.
Gefühlshunger kann sich auch als Sucht äußern, nach Konsum oder Drogen aller Art, inklusive dem Verlangen nach Qual des anderen.
Allerdings verschwinden Gefühle nicht einfach, da sie zu unserer DNA gehören. Wenn sie kein lebendiges Gegenüber finden, um sich auszudrücken, suchen sie sich als Ventil die Aggression. Manche brutalen Darstellungen im Netz beinhalten die stumme Behauptung, dass Gefühllosigkeit normal, sogar glorreich sei. Verständnis, Solidarität und liebevoller Umgang miteinander gelten als feige und bestrafungswürdig. Die verbale Brutalität im Internet ist nur die Vorstufe für reale Gewalttaten, die immer häufiger zwischen Jugendlichen, sogar Kindern passieren. Auf Dauer führt die fehlende Reibung der Gefühle zu seelischer Erschöpfung. Die zunehmenden Depressionen junger Menschen sind ein klares Indiz dafür.
Es sind diese Auswüchse ungestillter Emotion, die uns in Wahrheit bedrohen. Langsam und unbemerkt schleichen sie sich ein. Wenn sich Gefühlsarmut in der Seele erst einmal eingenistet hat, sind die Folgen unberechenbar.
Für die KI Forschung eignet sich dieser Notstand als ideales Argument. Der einfühlsame Pflegeroboter soll einsamen und hilfsbedürftigen Menschen nicht nur praktische Hilfe, sondern vor allem gefühlvolle Zuwendung bieten. Hält irgendein Software-Entwickler das menschliche Gehirn für so stumpf, dass es künstlich hergestellte Gefühle nicht erkennt? Im Innersten ist jeder Mensch ein witterndes Tier, dessen Nase jede Falschheit erschnüffelt, und sei sie auch in biologische Zellen implementiert. Instinktiv wendet sich das Gemüt von unechten Wesen ab, weil es diese als uninteressant, sogar gefährlich erkennt.
Und wie ist es mit der Liebe, die der Lust den emotionalen Kick verleiht? Der mit Libido-Software gefütterte Roboter könnte eine Zeit lang unterhaltsam sein, ähnlich einer artistischen Darbietung im Zirkus. Bald würde er mich langweilen wie ein abgegriffenes Spielzeug. Allerdings könnten erotische Robots einen mächtigen Hype durch unsere lustlose Gesellschaft jagen, bevor ihre Erfinder sich gesättigt abwenden. Die Jagd nach Höherem muss weitergehen, gemäß dem Prinzip des Konsums.
Liegt das endgültige Ziel der Künstlichen Intelligenz in Ausübung von Macht? Der Verdacht liegt nahe, dass Gefühle zunächst an technischen Wesen erzeugt und später am Menschen selbst kontrolliert werden sollen. Emotionen könnten wie Drohnen von Ferne und ohne persönliche Berührung gesteuert werden. Unsere Kommunikation mit anderen künstlich gesteuerten Wesen wäre leicht zu manipulieren. Bald hätte das menschliche Gehirn jene Fähigkeiten verlernt, die für unser Zusammenleben wesentlich sind − Solidarität, Mitgefühl, Verständnis. Mit Ersatz dieser Eigenschaften durch künstliches Bewusstsein wird die Brutalität zunehmen, da niemand sich mehr an sein Gewissen gebunden fühlt. Mächtige Autokraten werden noch leichter ihre Bevölkerung unterdrücken können, da niemand an ihr Gewissen appelliert.
Das ethische Gewissen, dieses unsichtbare Element in unserem Gehirn, entsteht aus von biologischem Bewusstsein erzeugten Werten. Die meisten menschlichen Entscheidungen werden letztlich von diesen Werten geleitet. Nach Abwägen vernünftiger Argumente verlässt man sich am Ende auf seine Intuition, eine Mischung aus Gefühl, Vernunft und Erfahrung. Um dem eigenen Gewissen zu folgen, braucht es Reflexion und persönliche Freiheit. All diese Qualitäten können durch Künstliche Intelligenz nicht ersetzt werden. Allmählich und unbemerkt werden sie verloren gehen und mit ihnen die wichtigste Fähigkeit des menschlichen Gehirns − die Fantasie. Schon jetzt sind die Gehirnzellen von ständig aufpoppenden Informationen auf dem Display völlig überladen. Nur noch wenig Platz zum Andocken kreativer Möglichkeiten bleibt verfügbar. Somit verflacht die Reflexion und mit ihr der Wille zur Rebellion.
Vielleicht ist es das, was die KI-Rechenzentren im Auftrag der Mächtigen anstreben, den weichgespülten, willenlosen Menschen. Wenn die Forschung einmal ihr Ziel erreicht hat, werden die Mechanismen mächtig und irreversibel sein. Wollen wir das?
Noch sind unsere Gehirne in der Lage, Freude, Wut und Angst zu mobilisieren. Es wäre wesentlich effizienter, den Mechanismus der Gefühlsarmut mithilfe der KI umzudrehen. Schon bei den Jüngsten Empathie zu trainieren, ihr friedliches Miteinander zu fördern, Kompromiss und Fairness zu belohnen − warum widmen sich die stromfressenden KI-Rechenzentren nicht dieser Aufgabe? Weil sie den Technikern weniger Ruhm und jenen weniger Profit brächte, die von der Gier der Konsumenten leben? Mit Gefühlsrobotern lässt sich die Werbehysterie spielend anfachen. Vor allem stellt sich nicht die Frage der Verantwortung, geschweige denn der Schuld, wenn der Mensch durch »gefühlvolle« KI in seiner Ehre, seinem Menschenrecht, gar seiner Würde verletzt wird. Verordnungen, Regeln und Sanktionen werden unsere Gefühle nicht schützen. Am Ende kann man immer sagen, es sei nur die Maschine gewesen, die zwar biologisch trainiert, aber trotzdem dem echt organischen Geist unterlegen sei. Wenn ein Desaster passiert ist, wird der menschliche Geist immer als das Höchste beschworen.
Wen bei alldem die Angst vor der Zukunft schüttelt, könnte das bald den Roboter erledigen lassen, samt Attacke gegen diejenigen, die uns mit größenwahnsinnigem Irrsinn bedrohen.
Für das künstliche Nachahmen menschlicher Gefühle gibt es keine Rechtfertigung, geschweige denn irgendeinen Nutzen für uns Menschen. Es ist an der Zeit, eine Gegenbewegung aufzustellen, die das menschliche Gehirn als nicht zu kopierendes System anerkennt. In seinen winzigen Zellen werden geniale Leistungen bei minimalem Verbrauch von Energie erbracht. Als einzige Nahrung braucht es stimulierenden Austausch mit biologischen, menschlichen Wesen. Ihre Gefühle lassen sich mit Künstlicher Intelligenz weder erklären noch produzieren, nur mithilfe von Gefühlen verstehen. Emotion wird von Energien gespeist, die unser Gehirn zwar erzeugt, im Ursprung jedoch nicht begreifen kann. Wem das zu kompliziert ist, kann sich an die Kunst der Meditation wenden.






Anja Krystyn ist Ärztin, Autorin und Kolumnistin der Zeitschrift »neue horizonte«. Nach ihren Romanen »Die Beine der Spitzentänzerin« und »Goldregen« sowie den Kurzgeschichten »Alles Liebe?« erschien zuletzt »Die rollende Venus – Geschichten über uns«. In ihren Werken geht es um gesellschaftspolitische und zwischenmenschliche Themen. Nach Stationen in Bologna, New York und Berlin lebt sie derzeit in Wien.