Amon Zarvan
Verschwinden
In meinem dritten Jahr an der Universität traf ich mich während der vorlesungsfreien Zeit noch immer mit einem Kommilitonen in der Mensa zum Essen. Es war die Zeit, in der die meisten Studenten im Prüfungsstress versanken und nur in die Mensa kamen, damit ihre Mägen später in der Bibliothek keine Leidensgesänge von sich gaben. Ein anderer Teil der Studenten, vor allem in unserem Studiengang der Literatur, ging in die Heimat, die Familie besuchen oder fuhr noch in den Urlaub, bevor es an die Hausarbeiten ging, welche erst Monate später abgegeben werden mussten. So kam es vor, dass die Mensa während dieser Zeit angenehm leer war und die besten Plätze und die Gerichte, die sonst schnell ausgingen, auch um 13:30 Uhr noch zu haben waren. Mein Kommilitone und ich nahmen Platz an einem der Plätze unter den Plastikpalmen. An einem kleinen roten Tisch in Holzoptik saßen wir auf weißen Stühlen etwas abgelegen vom Rest. Zwischen der Essensausgabe und unserem Platz waren lange weiße Tische, ebenfalls aus Plastik, an denen vereinzelt Studenten zu sehen waren. Wir aßen beide dasselbe Gericht, wobei ich mich nicht daran erinnern kann, was es genau war.
Ich weiß nur, dass wir eine Diskussion über das Verschwinden von Dingen führten. Oft fanden wir bei Diskussionen solcher Art einen gemeinsamen Nenner. So schien es auch diesmal zu sein, denn wir sahen beide zweierlei Arten des Verschwindens. Zum einen die des Fortgehens. Jemand geht fort an einen anderen Ort und verschwindet aus deinem Existenzkosmos. Du hörst nichts von dieser Person, siehst sie nicht mehr und die Dinge, die dich an sie erinnern, wie ihr blumiges Parfüm oder ihr unvergleichliches Lächeln oder ihre smaragdgrünen Augen verblassen. Anfangs versuchst du noch daran festzuhalten, um nichts zu vergessen, bis du letztendlich vergisst, nicht zu vergessen. Zum anderen gäbe es die Art des Verschwindens, die nicht immer sofort als Verschwinden aufgefasst wird. Du meinst, eine Person zu kennen, bis in jede noch so erdenklich tiefe Faser ihrer Persönlichkeit. Doch es gibt Dinge außerhalb unserer Kontrolle, die geschehen können. Dinge, die diese Persönlichkeit, die du meintest zu kennen, zutiefst erschüttern können. Wenn du dann diese Person siehst, wirst du nicht verstehen und kannst nicht sehen, dass sie verschwunden ist. Als teuflische Illusion lebt sie weiter, und vielleicht, aber vielleicht auch nicht, wirst du irgendwann erfahren, dass auch sie verschwunden ist.
An diesem Punkt unserer Diskussion setzte mein Kommilitone ein Nietzsche-Zitat ein und wir kamen etwas vom Thema ab. Er holte sein Notizheft, schlug es in der Mitte auf und blätterte einige Seiten zurück. Die Seite, aus der er vorlas, hatte er um das aufgeschriebene Zitat herum mit einem schwarzen Kugelschreiber ausgemalt. Er holte kurz Luft, bevor er sprach: „Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden.“ Er schlug das Notizheft wieder zu und steckte es in seine übergroße Jeanshose mit dicker weißer Naht. Dazu trug er ein enganliegendes weißes Tanktop. Er fragte, während er an der übrig gebliebenen Serviette herumspielte: „Wenn du aus unserem Gespräch eine Geschichte schriebst, was wäre dein Ziel?“ „Mein Ziel“, antwortete ich, „wäre es, diesen Moment in seiner vollen Tiefe festzuhalten, ähnlich wie ein Gemälde eine Momentaufnahme sein kann und einen Augenblick zum Leben erwecken kann." Er legte die Serviette beiseite und runzelte die Stirn. Schweißtropfen fingen an, sich auf seiner Stirn zu bilden. „Aber ist das nicht das Problem? Du möchtest mich in deiner Geschichte haben, aber ist das überhaupt möglich? Ich wäre in deiner Geschichte nicht ich. Ich kann es gar nicht sein, so sehr du dich auch bemühst.“ Seine Miene wurde plötzlich ernst, und ich weiß nicht, ob ich mir das nur einbildete, aber sein Gesicht schien mir mit einem Schlag bleich. Ein Schweißtropf wanderte hinunter und wurde von seinem Oberlippenbart abgefangen. Ich setzte fort, „Stell dir vor, ich würde unser Gespräch aufnehmen und dann jedes Detail in Schrift umsetzen. Ich würde schreiben, wie du mich ansiehst, wenn du deine Stimme hebst, dann, wenn du leiser wirst, und sogar, dass du mit dem rechten Bein wippst. Wäre das nicht eine vollständige Erfassung deiner Person in meiner Geschichte?“ Er blickte nach oben auf die Decke, sammelte seine Gedanken und schaute mich wieder an, „Aber ich bin nur eine Referenz. Sobald du schreibst, bin ich auf dem Papier nicht mehr ich. Du wirst mich töten, um mich in deiner Geschichte zum Leben erwecken zu können. Daran führt nichts vorbei. In deiner Geschichte befindet sich mein durch dich zum Leben erwecktes Ich. Es ist wie Frankensteins Monster. Nicht ich.“ Ich verstand und sprach nahtlos an dieser Stelle weiter, „Frankenstein möchte ich nicht, sondern dich.“ Er hielt inne und klatschte plötzlich die Hände auf seine Oberschenkel, stand auf und sagte, er müsse die Toilette aufsuchen. Ich wartete und dachte weiter nach. Nach kurzer Zeit nahm ich mein Notizbuch in die Hand und versuchte, die wichtigen Details unseres Gespräches aufzuschreiben. Auch wenn es mir nicht möglich war, ging ich die Sätze in meinem Kopf chronologisch durch und schrieb sie als Zitate auf. Natürlich werden mir in diesem Prozess einige Wörter abhandengekommen sein, jedoch war, so dachte ich, der Kern unseres Gesprächs gut von mir erfasst worden.
An diesem Sommertag verschwand mein Kommilitone, und ich sah ihn nie wieder. Mein Notizbuch wurde von der Polizei aufgenommen. Ich versuchte immer wieder ihn zu kontaktieren, und klingelte täglich immer wieder bei seiner Einzimmerwohnung in der Goethestraße. Sein Name stand noch Monate am Klingelschild. Ich wurde wahnsinnig, denn ich verstand es nicht. Es ergab keinen Sinn. Mir war nicht bewusst, wie das passieren konnte, und schlimmer noch: Mir entging nicht das schleichende Gefühl, etwas mit seinem Verschwinden zu tun gehabt zu haben.