Ann-Katrin Seibel

Die Jagd

 

 

Fast hätte er sie abgehängt, auf Höhe der Benzin und Trostlosigkeit ausdünstenden Tankstelle, doch im nächsten Moment stürmen sie um die Ecke wie ein Schwarm wilder Hornissen, grölend, in den kleinen Händen die langen Stöcke, in den verzerrten Gesichtern die nackte Bosheit, und dazu noch etwas anderes – Vorfreude. Er zuckt zusammen und rennt wieder los, panisch, keuchend, ziellos. Etwas fliegt an ihm vorbei, zerschellt unweit von ihm auf der Straße. Glasscherben schießen durch die Luft wie Granatsplitter, sie verfehlen ihn nur knapp. Weiter, weiter! Die Umgebung ist ihm fremd, wohin kann er fliehen? Er muss ein Versteck finden, schnell. Links und rechts Häuser mit Zäunen und Briefkästen und geparkten Autos in der Auffahrt, unter ihm wechselt Asphalt zu Sand. Er kann ihre grellen Schreie hinter sich hören. Kommen sie näher? Sich umzudrehen, dafür bleibt keine Zeit.
Ein alter Wohnwagen am Straßenrand taucht in seinem Blickfeld auf, ein kurzer Moment, ein Impuls, schon hechtet er darauf zu und zwängt sich darunter, kriecht weiter bis zur Mitte. Eine Katze, die im Schatten des Wagens gedöst hat, schreckt auf und sucht fauchend das Weite. Es riecht nach feuchtem Sand, sein Herz schlägt wild in der Brust. Das Ohr, an dem sie ihn erwischt haben, pocht vor Schmerz. Das Blut, das daran klebt, kann er nicht sehen, er nimmt nur den metallischen Geruch wahr. Schon sind sie da, er sieht ihre Füße, hört das Hämmern der flachen Hände am Wohnwagen.
»Komm schon, du Feigling!«, schreit der Junge mit der Spinne auf dem T-Shirt.
Er lässt den Kopf hängen, Sand knirscht zwischen seinen Zähnen.
Einmal hat er den Spinnen-Jungen dabei beobachtet, wie dieser einen Vogel quälte. Beim Sturz aus dem Nest hatte der kleine Spatz sich einen Flügel gebrochen. Der Junge nahm ihn auf seine Hand, hielt ihn direkt vor sein Gesicht und …
Er schließt die Augen und beginnt, leise zu wimmern.
»He, was macht ihr da! Schert euch weg von meinem Wohnwagen!« Die Stimme schallt von einem der Häuser herüber. Das Grölen ebbt ab, missmutig trotten die Füße davon.
Es ist still.
Er lauscht seinem rasselnden Atem.
Sind sie wirklich weg?
Es dauert eine Weile, bis er sich traut, unter dem Wagen hervorzukriechen. Zögernd richtet er sich auf, späht nervös die Straße runter. Der Mann ist nirgends zu sehen. Keine Kinder.
Und dann: ein Rascheln. Hinter einem Holunderbusch springen sie hervor, sie haben auf ihn gewartet, sie werden ihn nicht entkommen lassen.
Voller Entsetzen sprintet er los, das Blut rauscht in seinen Adern. Links und rechts Zäune, die Öffnungen, sie sind zu klein, um sich hindurchzuzwängen. Die Sonne blendet ihn, wo soll er hin, was soll er tun? Hinter ihm die Verfolger, vor ihm die staubige Straße und am Ende – sein Herz setzt für einen Atemzug aus – ein hoher Zaun. Als er ihn erreicht, rennt er wie von Sinnen nach links, dann wieder nach rechts, er findet kein Loch, er findet keinen Ausweg.
Die Kinder, sie erreichen ihn, sie zingeln ihn ein. Im Halbkreis stehen sie um ihn herum. Er spürt die Zaunstäbe im Rücken und zittert am ganzen Körper. Sie johlen und lachen, als wäre das hier eine Zirkusvorstellung. Einer greift nach einem Stein und zielt auf ihn, trifft ­direkt den Kopf. Der Schmerz durchfährt ihn wie ein Blitz, er fällt um, kurz wird ihm schwarz vor Augen. Die Spinne tritt näher und packt ihn im Genick. Seine Stimme, dicht vor ihm, voller Spott: »Na, jetzt rennst du nicht mehr.«
Instinktiv beißt er zu. Seine Zähne bohren sich in das nackte Fleisch, er schmeckt das Blut, noch bevor er den Aufschrei hört. Die Hand lässt von seinem Nacken ab, er sackt zu Boden, irgendwo geht ein Rasenmäher an.
Später werden die Leute sagen: »Stellt euch vor, ins Bein gebissen hat er den armen Jungen. Das geht doch nicht. Wer weiß, was da noch alles passiert wäre.« Und sie werden sich besser fühlen dadurch, weil natürlich niemand gern einen jungen Hund einschläfern lässt, und weil er doch auch noch gar nicht lange bei der Familie war.
Aber wer weiß, was noch alles passiert wäre.