Luna Wilde
Oneironauten
»Versuchen Sie doch mal, Ihre Träume zu kontrollieren. Luzides Träumen«, hatte meine Psychologin gesagt.
»Luzi – was?«, hakte ich verwirrt nach.
»Klarträumen«, erklärte sie geduldig, wie eine Psychologin das eben tut. »Sie lernen, sich im Traum bewusst zu werden, dass Sie träumen. Und dann können Sie steuern, was passiert.«
»Also wie ein Videospiel?«
»Also … Ja, wie ein Videospiel, nur ohne Controller.«
Klang ja eigentlich ganz cool. Also vertiefte ich mich in das Thema – und was soll ich sagen? Plötzlich war ich Schlafwissenschaftler. Oneironauten nannten sich jene, die ihre Träume steuern konnten wie ein Segelschiff im Wind.
Ich wollte dazugehören.
MILD, DILD, WILD – mein Kopf war eine einzige Datenbank an Techniken. Ich sog jedes Buch, jeden Blogbeitrag und jedes noch so obskure Forum in mich auf. Reality-Checks, Traumtagebuch, der richtige Wecker – ich probierte alles. Jede Nacht startete ich hochmotiviert mein Ritual: Zähne putzen, ins Bett legen, Mantra murmeln.
»Das nächste Mal, wenn ich träume, erinnere ich mich, dass ich träume.«
In meine warme Decke gekuschelt, flüsterte ich es unzählige Male.
Nachts schreckte ich oft hoch. War ich gerade wach? War das ein Traum? Doch sieben Nächte lang nichts. Keine Erkenntnis. Kein bewusstes Träumen.
Aber dann kam die achte Nacht. Und diesmal wurde alles anders.
Plötzlich befand ich mich in meinem Schlafzimmer, aber ich spürte, dass etwas anders war. Eilig krabbelte ich aus dem Bett und schaute mich um. Alles sah aus wie immer. Träumte ich tatsächlich?
»Wenn es dann so weit ist«, hatte meine Psychologin gesagt, »führen Sie Reality Checks durch. Überprüfen Sie die Logik der Welt! Drücken Sie einen Lichtschalter – geht das Licht an? Zählen Sie Ihre Finger – haben Sie wirklich fünf an jeder Hand?«
Nichts einfacher als das. Also drehte ich mich in meinem Schlafzimmer um meine eigene Achse, suchte fieberhaft nach einem Lichtschalter und fand schließlich einen an der Wand. Ich holte tief Luft, drückte drauf und …
Nichts.
Die Lampe blieb aus. Keine Reaktion.
Ich blinzelte. Drückte nochmal. Wieder nichts.
Dann traf es mich wie ein Blitz – ich träumte und ich wusste es!
Mit einem Mal waren meine Nächte grenzenlos. Ich konnte fliegen, zaubern, ganze Welten erschaffen – und mir endlich meine tiefsten Sehnsüchte erfüllen.
Die Gesetze der Physik? Bedeutungslos. Die Grenzen des Möglichen? Nicht existent.
Doch was tut man, wenn wirklich alles möglich ist?
Ich öffnete das Fenster und blickte hinaus. Eine weiße, endlose Landschaft erstreckte sich vor mir, der Schnee glitzerte im Licht der Morgensonne. Eine eisige Brise wirbelte durch den Raum, doch ich spürte keine Kälte.
Draußen tollten zwei Rentiere wie übermütige Kinder durch den Schnee.
»Willkommen, willkommen«, piepste plötzlich eine Stimme. Eine Schneeflocke, so groß wie ein Tennisball, schwebte vor meinem Fenster und winkte mir aufgeregt zu. Lächelnd winkte ich zurück.
Ohne zu zögern, stieg ich über die Fensterbank und ließ mich fallen. Der Wind rauschte in meinen Ohren, doch anstatt hart aufzuschlagen, landete ich sanft im Schnee. Die weiche Decke umschloss mich, und für einen Moment genoss ich die kühle Frische auf meiner Haut.
Dann hob ich den Kopf – und blinzelte überrascht.
Der Schnee war verschwunden. Stattdessen spürte ich warmen Sand unter meinen Fingern. Die weiße Winterlandschaft hatte sich in eine endlose Prärie verwandelt. Die Luft flimmerte in der Hitze, und der Horizont verschwamm in goldenem Licht. Ich stand auf und wischte mir über die Stirn. Mein Atem beschleunigte sich.
Plötzlich zog ein Sturm auf. Der Wind riss an meiner Kleidung, zerzauste mein Haar und packte mich mit unbändiger Kraft. Wie eine Feder wurde ich emporgehoben, wirbelte durch die Luft, gefangen in seinem unaufhaltsamen Tanz.
Ich schwebte – schwerelos, ausgeliefert, doch zugleich seltsam frei.
Ich blickte nach unten, sah die Prärie unter mir kleiner werden. Neben mir kreisten zwei Adler, ihre mächtigen Flügel trugen sie mühelos durch die Lüfte.
»Willkommen, Fremde!«, kreischten sie fröhlich.
Ich schloss die Augen, breitete die Arme aus und ließ mich vom Wind tragen. Mein Körper wurde leichter, schwereloser – als hätte ich nie etwas anderes getan, als durch den Himmel zu gleiten.
Dann ließ ich mich fallen.
Die Luft riss an mir, der Boden kam näher – doch anstatt aufzuschlagen, tauchte ich ein. In Wasser.
Ein riesiger See erstreckte sich unter mir, tiefblau und endlos. Ich glitt hindurch, als wäre ich schwerelos, meine Bewegungen mühelos wie die eines Fisches.
Um mich herum tauchten gewaltige Kreaturen aus der Dunkelheit auf – schimmernde, unfassbar große Wesen mit leuchtenden Augen und bunten Schuppen. Sie bewegten sich anmutig durch das Wasser, ihre Körper funkelten in allen Farben, als hätten sie das Licht eines ganzen Ozeans in sich gefangen.
Eine der Kreaturen schwamm neben mir her. Vorsichtig tastete ich nach ihrer Haut – und plötzlich löste sich eine Schuppe. Sie trieb davon, und an ihrer Stelle blieb ein pechschwarzes Loch zurück. Ein seltsames Kribbeln durchfuhr mich. Hatte sich da etwas in der Dunkelheit bewegt?
Zögernd lugte ich hinein – und mein Atem stockte.
Kein Fleisch, kein Blut, keine Tiefe, sondern ein endloser Nachthimmel. Hunderte, nein, tausende Sterne tanzten dort in perfekter Harmonie.
»Willkommen, Reisende«, sangen sie in einem vielstimmigen Flüstern. Ein Gefühl von Geborgenheit durchströmte mich, warm und allumfassend.
Doch dann änderte sich ihr Lied.
»Zeit aufzuwachen«, sangen sie erneut – sanft, doch bestimmt.
Verwirrt blinzelte ich. Die Sterne begannen zu verblassen, das funkelnde Universum um mich herum zerfloss. Ein sanfter Sog zog mich fort, zurück durch das schwarze Loch, zurück durch das Wasser, durch die Stille, durch die Zeit.
Dann, ganz plötzlich …
Ich blinzelte erneut.
Ich lag in meinem Bett. Mein Herz schlug noch immer schnell, also atmete ich tief durch und schloss die Augen. Vielleicht würde ich es schaffen, zurückzukehren – dorthin, wo die Grenzen der Realität nicht existierten.
Dorthin, wo alles möglich war.