Frank Finner

 

Der alte Mann

 

 

 

Der alte Mann hatte den Kofferraum geschlossen, in den er zuvor einen Rucksack geworfen hatte. Dann schob er sich hinter das Lenkrad und ließ den Wagen an. Er hatte sich von niemandem verabschiedet. Es gab niemanden zum Verabschieden mehr. Seine Frau, die er sehr geliebt hatte, lag seit einigen Jahren im nahegelegenen Friedwald; seine Tochter war irgendwo mit einem Projekt beschäftigt. Sie rief immer noch regelmäßig an, aber sie war schon lange nicht mehr zu Besuch gekommen.

Die Sonne berührte bereits den Horizont. Es wurde allmählich Abend. Der alte Mann startete den Wagen. Vorsichtig rollte er aus der Garage auf die Fahrbahn. Dann fuhr er los, zur Autobahn und in die anbrechende Dunkelheit hinein, nach Süden.

 

*

 

Das Tal lag noch in tiefer Finsternis, aber die Spitzen der Berge glühten bereits in der aufgehenden Sonne. Der alte Mann holte den Rucksack aus dem Kofferraum und zog sich festere Schuhe an. Er sah sich um. Hier hatte sich in den gut 60 Jahren, seit er das letzte Mal hier gewesen war, kaum etwas geändert. Er schloss den Wagen sorgfältig ab, dann ging er los. Er erinnerte sich noch gut an den Weg. Die ersten Kilometer ging es nicht allzu steil bergauf, dann kam ein Gasthaus. Der alte Mann spielte mit dem Gedanken, dort einzukehren, ließ ihn aber gleich wieder fallen. Er ging langsam am Gasthaus vorbei, nicht mehr mit so schnellen Schritten wie damals, als er mit seinem besten Freund hier gewesen war.

Etwas weiter teilte sich der Weg. Hier waren sie einst nach links gegangen, den steilen Pfad zu einer abgelegenen Hütte hinauf. Er ging geradeaus weiter.

Es blieb nun über eine lange Strecke den Talgrund entlang nahezu eben, mit majestätischen Felswänden rechts und links. Wenige Menschen waren heute unterwegs, die Saison war schon fast zu Ende. Anders als früher grüßte er heute niemanden, zu tief war er in Gedanken versunken, als dass er überhaupt jemanden bemerkte, der ihm begegnete.

Erneut gabelte sich der Weg. Links ging es zu einer bewirtschafteten, einladenden Berghütte. Die Sonne berührte schon wieder die Bergspitzen, aber die Hütte lag nicht allzu weit entfernt und war vor Einbruch der Dunkelheit erreichbar. Der alte Mann jedoch ging nach rechts, zu einem nahegelegenen Heuschober, um dort die Nacht zu verbringen. Er aß ein paar mitgebrachte Brote, trank einige Schlucke Wasser und schlief fest und traumlos ein.

 

*

 

Als er am nächsten Morgen aufwachte, war es noch dunkel und sehr kalt, so kalt, dass das Wasser in seiner Aluminiumflasche gefroren war. Er suchte seine Stirnlampe aus dem Rucksack, packte seine Sachen zusammen und ging los, einen schmalen, steilen, kaum sichtbaren Pfad zwischen gigantischen, herabgestürzten Felsen hinauf, in die Dunkelheit hinein. Es war anfangs nicht einfach, die richtigen Tritte zu finden, doch allmählich wurde es heller und die Stirnlampe war nicht mehr notwendig.

Mühsam arbeitete der alte Mann sich den Berg hinauf, weiter, immer weiter. Allmählich bemerkte er, dass dort, wo er ging, kein Pfad mehr war. Er war vielleicht der erste Mensch, der diesen Fleck betreten hatte. Hoch über dem Talgrund war er bereits, als sich vor und über ihm eine senkrechte, gar überhängende Felswand erhob und er nicht mehr weiterkam.

Der alte Mann ließ sich nieder. Er hatte den Platz erreicht, den er vor Jahrzehnten von weitem mit dem Feldstecher entdeckt hatte, und den er seither nie mehr aus seinen Gedanken verbannen konnte. Er aß seine letzten Brote, trank etwas Wasser und ließ seine Blicke über das Tal unter ihm schweifen.

Wie klein das alles dort unten war! Wie weit weg all die Sorgen erschienen, die ihn all die Jahre seit damals begleitet hatten! Während er schaute, erinnerte er sich: An schöne Zeiten, an Fehlschläge, an Menschen, an Orte, an Dinge, an sein ganzes Leben.

 

*

Die Sonne ließ die Gipfel mit ihren letzten Strahlen golden glänzen. Unten im Tal konnte man nichts mehr erkennen, ihr Licht konnte den Talgrund nicht mehr erreichen. Der alte Mann rollte seinen Schlafsack aus und kroch hinein. Er schloss zufrieden die Augen.

 

*

 

Die Sonne war nun untergegangen, der Himmel war voller glitzernder Sterne und Dunkelheit umfing den alten Mann.